Gastbeitrag
„Engagement ist das Gegenteil von Egoismus.“

28.08.2020

Nur nachhaltige Beziehungen sind krisenfest: Das haben Deutschland und Frankreich erneut gezeigt – zuletzt mit ihrem historischen Einsatz für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft. Maßgeblich mitgestaltet wird das Fundament dieser stabilen Beziehung von einer Zivilgesellschaft, die Grenzen überschreitet.

 

In der Coronakrise standen Engagement und deutsch-französische Freundschaft im Scheinwerferlicht. Während Mobilitätsbeschränkungen im grenznahen Raum das deutsch-französische Zusammenleben belasteten, zeigte sich anderswo, wie stark die Verbundenheit zwischen Kommunen beider Länder ist. Ob in Kassel und Mulhouse, Völklingen und Forbach, Elsass-Lothringen und Sachsen-Anhalt: Krankenhäuser der Partnerstadt oder befreundeter Regionen retteten das Leben von Patient*innen aus dem Nachbarland. Einmal mehr galt:

Eine lebendige Zivilgesellschaft, die für europäischen Zusammenhalt und Menschenrechte einsteht, kann Berge versetzen.

Doch Engagement ist kein Feuerlöscher, sondern muss insbesondere in guten Zeiten gelebt werden. Warum? Keine Beziehung ist automatisch wind- und wetterfest. Im Job wird genetzwerkt, in der Liebe gedatet. Und was beruflich und privat gilt, gilt auch auf gesellschaftlicher und grenzüberschreitender Ebene: Einander begegnen, Werte und Interessen teilen, diskutieren, gemeinsame Erlebnisse schaffen und Erfolge feiern.

Engagement ist das Gegenteil von Egoismus – auch und gerade in Europa. Gemeinsames Engagement stärkt Zusammenhalt und Vertrauen, auf das es gerade in Krisenzeiten ankommt.

Vereine – ein unschätzbares Potenzial

Deutschland und Frankreich brauchten keine Krise, um zu erkennen, welchen Schatz zivilgesellschaftliches Engagement darstellt. 2019 bekräftigten beide Regierungen mit dem Vertrag von Aachen nicht nur ihre Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher und politischer Ebene, sondern beschlossen auch die Einrichtung eines Bürgerfonds, der das Zusammenwachsen der deutschen und französischen Zivilgesellschaft fördern soll. Seit April 2020 ist dieser Beschluss zur 2,4 Millionen Euro schweren Wirklichkeit geworden, gemeinsam finanziert vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), vom französischen Jugendministerium und vom französischen Außenministerium. Der Deutsch-Französische Bürgerfonds fördert bilaterale Projekte von Vereinen und Bürgerinitiativen, Städtepartnerschaften und Stiftungen, Akteuren aus Sozialwirtschaft, Kultur, Bildung u. a. – insbesondere jene, die bislang noch nicht deutsch-französisch aktiv waren.

In Vereinen wird Sport getrieben, die Umwelt geschützt, Diskriminierung angezeigt, Integration gelebt und die Demokratie beflügelt. Doch nur ein Teil der Vereine engagiert sich auch über Landesgrenzen hinweg. Neben den über 2.200 Städtepartnerschaften gibt es freilich tausende Organisationen, die Frankreich in Form von Filmabenden, Diskussionsrunden oder Musikfesten auf den örtlichen Marktplatz holen und die Menschen zu Austauschbegegnungen nach Frankreich bringen. Seit mehr als sieben Jahrzehnten.

Doch ein Austausch mit Frankreich sollte noch viel mehr Engagierte motivieren.

Über 600.000 Vereine1 und 30 Millionen freiwillig engagierte Menschen2 gibt es in Deutschland; Frankreich zählt sogar 1,5 Millionen Vereine3 und rund 20 Millionen Ehrenamtliche4. Ein unschätzbares Potenzial, das es noch stärker zu nutzen gilt, um die Gesellschaften dies- und jenseits des Rheins einander näher zu bringen: Menschen jeglichen Alters und Bildungsniveaus und Wohnorts, jeglicher Religion und sexueller Orientierung, Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund sollen die europäische Idee durch grenzüberschreitende Begegnungen erleben.

Deutsch-französisches Engagement gegen Vertrauensverlust in Demokratie und Europa

Das Engagement von Bürger*innen in Deutschland und Frankreich sowie seine politische und finanzielle Unterstützung dürfen uns zuversichtlich stimmen: Die deutsch-französische Beziehungsarbeit kann – weil sie tagtäglich gelebt wird – helfen, auch andere aktuelle Krisen zu bewältigen:

Unsere Demokratien verlieren an Zustimmung: Nur 35 % der Menschen in Frankreich sind derzeit mit der Demokratie in ihrem Land zufrieden5; in Deutschland sind es je nach Studie noch zwischen 46 %6 und 55 %7 der Befragten, aber die Tendenz ist sinkend, insbesondere im Osten des Landes.

Um wieder Vertrauen zu fassen, müssen Menschen spüren, dass ihr Tun etwas bewirkt.

Deutsch-französische Projekte können das schaffen: Sie sind oft Gelegenheit für alle Teilnehmenden neue Wege zu gehen, unvergessliche Momente zu erleben, über sich hinauszuwachsen und Freundschaften zu knüpfen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Thema Europa: Knapp die Hälfte aller Deutschen hat Ver-trauen in die EU und 61 % glauben, dass ihre Stimme zählt. Auch in Deutschland schwanken diese Werte je nach Berufsgruppe8, aber in Frankreich wird Euroskepsis allgemein größer geschrieben: Mehr als die Hälfte der französischen Bürger*innen hat kein Vertrauen in die EU und glaubt nicht, dass ihre Stimme zählt9. Eine neue Studie10 zeigt jedoch auch: Eine knappe Mehrheit der Franzosen drückt generell ihre Zustimmung zu europäischen Werten aus; die ablehnende Haltung gegenüber der EU habe unter anderem kulturelle Gründe, schreiben die Autoren: In einem zentralistisch organisierten Land sei man Kompromisse, um die auf europäischer Ebene ständig gerungen wird, weniger gewohnt und auch das fortbestehende Selbstbild der Grande Nation erschwere ein bedingungsloses Bekenntnis zur EU.

Hier müssen deutsch-französische Begegnungen ansetzen: Sie können die positive Grundhaltung gegenüber europäischen Werten stärken.

Sie ermöglichen gegenseitiges Verständnis: Warum tickt ihr so und wir so? Und vor allem: Was verbindet uns? Ob Hockey, Barockmusik, Umweltschutz oder Nachbarschaftshilfe: Im Zentrum deutsch-französischer Projekte stehen die Menschen, ihre Fragen, Prägungen und Interessen. Bei deutsch-französischen Projekten erlebt man im Kleinen, welche Herausforderungen im Großen bestehen: Es gilt, trotz biografischer, sprachlicher oder kultureller Unterschiede Kompromisse und Lösungen zu finden, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Grenzüberschreitende Begegnungen sind der Schlüssel zur internationalen Zusammenarbeit. Innerhalb einer Gesellschaft stärken sie interkulturelle Kompetenz. In jeder deutsch-französischen Begegnung steckt ein europäischer Kern.

Von der Krisenbewältigung zur Krisenprävention

Bei der „ad-hoc-Bewältigung“ der Corona-Krise haben Deutschland und Frankreich, Regierungen wie Zivilgesellschaft, eine Pandemie eingedämmt, Risikogruppen geschützt und die wirtschaftlichen Folgen reduziert. Doch mindestens ebenso dringend brauchen wir gemeinsame Antworten auf Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und Integration oder Digitalisierung. Für jedes dieser Themen strotzt die Zivilgesellschaft vor Innovation.

Und diese Innovation können wir verdoppeln, wenn wir die Initiativen dies- und jenseits des Rheins zusammenbringen.

Nachdem Fridays for Future die Straßen der Welt eroberte, berief Frankreich erfolgreich einen Klima-Bürgerrat ein. Hier wie dort tragen ehrenamtlich engagierte Menschen die gelebte Willkommenskultur. Und gelungene Digitalisierung ist nicht nur auf den kritischen Blick von Nichtregierungsorganisationen angewiesen, sondern sie stellt etwa in Form von Civic Tech auch für die Zivilgesellschaft eine große Chance dar – insbesondere in Coronazeiten, die kreative digitale Lösungen umso erforderlicher machen.

Die Chancen und Risiken unserer Zeit sind groß, aber jedes deutsch-französische Projekt zeigt: Gemeinsam können wir sie meistern.

 

Quellen:

  1. Datenreport Zivilgesellschaft (ZiviZ 2019)
  2. Freiwilligensurvey (BMFSFJ, 2014)
  3. Les Associations : Etat des lieux et évolutions – vers quel secteur associatif demain ? (Addes, 2018)
  4. L’évolution de l’engagement bénévole associatif en France (France Bénévolat & Crédit Mutuel, 2019)
  5. Baromètre de la confiance (Sciences po, 2020)
  6. Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien (Bertelsmann, 2019)
  7. Baromètre de la confiance (Sciences po, 2020)
  8. Selbstverständlich europäisch? Der Auftrag für die EU-Ratspräsidentschaft (Heinrich-Böll-Stiftung, 2020)
  9. Eurobarometer (Europäische Kommission, 2019)
  10. Les Français et l’Europe (Institut Jacques Delors, 2020)

Tobias Bütow und Anne Tallineau sind Generalsekretär*in des Deutsch-Französischen Jugendwerks, welches auf Initiative beider Regierungen den Deutsch-Französischen Bürgerfonds aufbaut.

Dieser Beitrag ist am 27. August 2020 im Newsletter des Bundesnetzwerk für Bürgerschaftliches Engagement (BBE) erschienen.