Interview
Klimaschutz: Europa an der Weggabelung

26.10.2020

Ohne Deutschland und Frankreich geht es nicht, wenn Europa beim Klimaschutz vorankommen will. Aber ohne engagierte Bürger*innen auch nicht. Neil Makaroff, Europabeauftragter des Netzwerks Réseau Action Climat, plädiert für Pragmatismus und gemeinschaftliches Handeln im Kampf gegen den Klimawandel – und für eine Abkehr vom Status Quo.

 

1 - Réseau Action Climat ist der französische Verband für Vereine, die sich für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen und vertritt Frankreich in einem europäischen und weltweit tätigen Netzwerk von NGOs. Sie beschäftigen sich etwa mit Themen wie Ernährung, Energie – oder Europa. Wo sehen Sie hier die Herausforderungen?

Seit den Europawahlen 2019 ist das Thema Klima eine Priorität in Europa geworden. Alle politischen Parteien sprechen darüber, aber sobald man sich die Hände schmutzig machen muss, kehren oft alte Reflexe zurück.

Dabei muss Europa wichtige Entscheidungen treffen, um unseren Kontinent in die richtige Richtung zu lenken und auf der internationalen Bühne als Vorbild zu agieren – heute mehr denn je, kurz vor dem fünften Geburtstag des Pariser Klimaabkommens. Unsere europäischen Regierungen müssen sich auf ein neues europäisches Klimaziel für 2030 einigen, mit dem der globale Temperaturanstieg auf 1,5 Grad beschränkt wird.

Das Europaparlament hat versucht, sich dieser Herausforderung zu stellen und das Ziel verabschiedet, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um 60 % zu verringern. Diese Marke ist das Mindeste, was Angela Merkel, Emmanuel Macron und die anderen Staatschef*innen anstreben sollten, um den Erkenntnissen der Wissenschaft gerecht zu werden. Das ist nicht nur eine Zahl, sondern ein Kompass, nach dem alle politische Entscheidungen ausgerichtet werden können: so können etwa die 750 Milliarden Euro des europäischen Aufbauplans so investiert werden, dass ökologischer Wandel in der Wirtschaft angestrebt wird, stabile Arbeitsplätze geschaffen und unsere Lebensbedingungen verbessert werden.

Europa steht also an einer Weggabelung: Es sollte den Weg des Green Deal wählen und nicht einen gefährlichen Status Quo, der uns in eine 5 Grad zu heiße Welt führt.

 

2 - Welche Rolle spielt die deutsch-französische Zusammenarbeit, um diesen Herausforderungen zu begegnen? Und wie kooperiert Réseau Action Climat mit seinen europäischen Partnern?

Der europäische Aufbauplan hat es gezeigt:

Große Fortschritte sind kaum möglich, wenn Deutschland und Frankreich sich nicht einig sind.

Auch beim Klima kann die deutsch-französische Kooperation ein Motor sein. Aber beim Kampf gegen den Klimawandel haben beide Länder seit Langem Differenzen: Deutschland wirft Frankreich vor, seine alternden Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen und Frankreich beklagt, dass Deutschlands Kohleausstieg zu lange dauert. Angesichts der politischen Lage in Europa haben wir aber gar keine andere Wahl, als eine deutsch-französische Einigung in Klimafragen zu finden.

Dafür setzt sich zum Beispiel Réseau Action Climat in Frankreich mit deutschen Partner-NGOs ein, wie etwa dem Deutschen Naturschutzring oder Germanwatch: Wir machen gemeinsam Druck, um die Klimadebatte in Frankreich und Deutschland voranzubringen und um eine Einigung beim ökologischen Wandel zu erzielen. Wir können das Problem nur gemeinsam lösen – das müssen auch die Regierungen verstehen.

 

3 - Dieses Jahr wurde in Frankreich ein Bürgerrat für das Klima ins Leben gerufen. Wie bewerten Sie dieses Experiment?

Der Bürgerrat für das Klima ist ein noch nie dagewesenes Demokratie-Experiment, das europaweit als Beispiel dienen kann: 150 Bürger*innen wurden über die wissenschaftlichen Fakten aus der Klimaforschung informiert und entwickelten auf dieser Grundlage Forderungen für den ökologischen Wandel:

Das ist ein Erfolg, der zeigt, dass informierte Bürger*innen verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können, die der Dringlichkeit der Krise entsprechen – auch, wenn sie radikal sind.

Damit der Bürgerrat eine echte Erfolgsgeschichte wird, muss die Regierung aber nun die Forderungen ungefiltert annehmen und umsetzen. Das war das Versprechen von Präsident Emmanuel Macron, das er aber bislang nicht erfüllt: Die Regierung streicht gerade einige strukturelle Forderungen, wie zum Beispiel die Abschaffung von Inlandsflügen oder die Besteuerung von SUV-Fahrzeugen. Diese „Joker“, wie Emmanuel Macron die Ausnahmen nannte, schaden dem Vertrauen der Bürger*innen in die Versprechen der Politik. Und das ist doppelt gefährlich: für das Klima und für die Demokratie.

 

4 - Ganz allgemein, wo können Bürger*innen im Kampf gegen den Klimawandel selbst aktiv werden – individuell, oder auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene?

Wir alle können uns für Klimaschutz einsetzen. Ohne die Massenbewegung der Bürger*innen hätte es den europäischen Green Deal nie gegeben. Das Thema „Klima“ ist eine der größten Sorgen der Europäer*innen – zu Recht, denn die Bedrohung durch den Klimawandel ist beispiellos.

Um das Thema auf die politische Agenda zu setzen und Entscheidungsträger*innen zum Handeln zu zwingen, brauchen die Organisationen der Zivilgesellschaft die Unterstützung von engagierten, aktiven Bürger*innen.

Es gilt also, nicht die Schultern hängen zu lassen, denn wir haben noch viel zu tun!

 

5 - Wer sich für Umweltschutz einsetzt, wird manchmal der naiven Utopie, manchmal der negativen Dystopie eines Totalzusammenbruchs unserer industriellen Zivilisation beschuldigt. Welchen Schuh ziehen Sie sich lieber an und was antworten Sie solchen Vorwürfen?

Es ist nicht utopisch, eine Bedrohung wie die Klimakrise bekämpfen zu wollen, die bereits heute massive Auswirkungen auf unser Leben und Alltag hat. Im Gegenteil: Das ist pragmatisch. Dieser Pragmatismus beruht auf wissenschaftlichen Daten und auf den Lösungen des ökologischen Wandels. Diese Veränderungen zu blockieren und auf dem Status Quo zu beharren, bedeutet, die Gefahr zu ignorieren.

Wenn wir den ökologischen Wandel voranbringen, können wir die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels abschwächen und außerdem unsere Gesellschaften stärken: stabile Arbeitsplätze in Zukunftssektoren, die nicht ins Ausland verlagert werden können; gesicherte Energieversorgung aller Menschen; Stärkung unserer Souveränität.

Kurz gesagt: Wir sollten aufhören, von Utopie oder Schreckensszenario zu sprechen.

Wir haben gar keine andere Wahl, als uns für Klimaschutz einzusetzen. Die Lösungen sind bekannt – es ist Zeit, pragmatisch zu sein.


Neil Makaroff verantwortet den Bereich Europapolitik bei Réseau Action Climat, einem Netzwerk von 25 französischen NGOs. Er studierte an der Sciences Po Grenoble Europawissenschaften und arbeitete danach in der Brüsseler Vertretung der Region Rhône-Alpes. Er engagierte sich für den Schienenverkehr in Europa und stieß 2017 zu Réseau Action Climat hinzu.