Interview
„Kultur ist lebenswichtig.“

04.09.2020

Die Kulturbranche ist von der Coronakrise ganz besonders getroffen. Mit dem ARTE-Gründer Jérôme Clément haben wir über Gründe zur Sorge und zur Hoffnung gesprochen – und über die heilsamen Kräfte von Poesie.

 

1 - Die Rückkehr aus der Sommerpause ist in diesem Jahr von viel Unsicherheit geprägt – die Kultur ist einer der Bereiche, der die Folgen der Coronakrise am stärksten zu spüren bekommt. Was bereitet Ihnen Sorgen, was macht Ihnen Hoffnung?

Die Pandemie ändert alles und damit auch die Auslastung von kulturellen Orten. Mir bereiten die Schwierigkeiten Sorgen, von denen alle Einrichtungen mit Publikum betroffen sind: Museen, Bibliotheken, Theater, Kinos, Konzertsäle usw. All diese Orte leiden stark unter den Folgen der Coronakrise. Natürlich helfen Staat und Kommunen den Kulturveranstaltern, diese schwierige Zeit zu überstehen. Aber sollten die Kontaktbeschränkungen andauern, wird die Lage deutlich schwerer in den Griff bekommen zu sein.

Die aktuelle Situation zeigt auch: Kultur ist lebenswichtig.

Auf der anderen Seite stimmt es mich optimistisch, dass die aktuelle Situation auch zeigt: Kultur ist lebenswichtig. Und selbst, oder vor allem, in Krisenzeiten können und müssen wir neue Wege finden, miteinander zu kommunizieren und Momente der Gemeinschaft zu erleben; was uns eint, ist die Begeisterung für das Erschaffen von Neuem und für Künstler*innen, die uns helfen, die Welt zu sehen und zu verstehen. Die Digitalisierung hat hier einen großen Beitrag geleistet, aber sie kann den direkten Kontakt mit Kunstwerken und -schaffenden nicht ersetzen.

Ich vertraue auf das Vermögen der Menschen, jede noch so große Herausforderung zu meistern.

 

2 - Während der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen kam es zu einem neuen Phänomen in den Sozialen Medien: Digitale Konzerte und Aufführungen, oft in Form von zusammengeschnittenen Videoschnipseln, die die Künstler*innen in Freizeitkleidung in ihrer Küche oder auf der Terrasse zeigen. Welche gesellschaftliche Rolle spielt die Kultur in Krisenmomenten?

In Momenten der Krise brauchen wir Raum zum Nachdenken, Ablenkung und Gemeinschaft. Künstler*innen tun genau das: Sie stellen sich Fragen – in Schrift, Bild oder Ton – und nehmen uns mit an fremde Ufer, fernab vom Strom unseres Alltags.

Poesie kann uns helfen, mit jeglichen Schwierigkeiten umzugehen.

Ich zum Beispiel habe mich während der Ausgangsbeschränkung viel mit Poesie beschäftigt. Durch die Schönheit ihrer Worte und die Träume, die sie weckt, kann Poesie diesen Raum schaffen, den wir sowohl für uns selbst als auch als Gemeinschaft brauchen. So etwas ist sehr kostbar und kann helfen, mit sämtlichen Schwierigkeiten umzugehen – seien sie etwa gesundheitlich oder beruflich.

 

3 - Sie sind einer der Gründerväter von ARTE, einem Fernsehsender mit tief verankertem deutsch-französischen Geist. Heute strebt ARTE vor allem danach, zu einer „europäischen Kultur“ beizutragen. Hat die deutsch-französische Zusammenarbeit, die auf politischer Ebene unverzichtbar in der Europäischen Union (EU) ist, auch im Bereich der Kultur die Rolle des „Motors“ inne?

Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist notwendig für eine europäische Dynamik. Das wird gerade wieder am Beispiel der Vergemeinschaftung von Schulden innerhalb der EU deutlich. Der Kulturbereich ist kein einfacher, denn hier spielen die Identität und Geschichte eines Volkes eine zentrale Rolle – sensible Themen für jedes Land. Daher gibt es auch bis heute relativ wenige gemeinsame Kulturprojekte, abgesehen vom Deutsch-Französischen Jugendwerk, von Erasmus oder von ARTE, auch wenn die europäischen Kulturinstitute (Museen, Musikensembles, Theatertruppen, Opernhäuser usw.) viel untereinander kooperieren.

Die aktuelle Krise sollte wenigstens dazu beitragen, hier ein Stückchen voran zu kommen und unabdingbare Sonderfinanzierungen zu erhalten. Ich hoffe zum Beispiel, dass die geplanten Milliardenhilfen teilweise für Unternehmen in der Kulturbranche aufgewendet werden, die mit der Krise kämpfen. Teilweise geschieht das schon für die Kinos, aber man könnte noch viel mehr machen. Das wäre eine schöne Initiative, die Deutsche und Franzosen gemeinsam ergreifen könnten; ein starkes Signal an alle Kulturschaffenden.

 

4 - Wie hilft uns die Kultur eines Landes, es besser zu verstehen? Können Sie uns zum Beispiel verraten, wie Kultur Ihnen geholfen hat, Deutschland besser zu verstehen? Und umgekehrt: Welche Kultur-Empfehlungen würden Sie einer*m Deutschen raten, die*der Frankreich besser kennenlernen will?

Ich bräuchte ein ganzes Buch, um auf diese Frage zu antworten! Deutschland und Frankreich haben beide eine lange Geschichte und eine große kulturelle Vielfalt.

Augen und Ohren weit aufsperren!

Wenn ich einen Tipp geben müsste, dann folgenden: sich selbst besser kennenlernen, andere Länder bereisen, Bücher lesen, Musik hören und dabei Augen und Ohren weit aufsperren. Viel Glück!


Jérôme Clément ist ein französischer Experte für Kultur und Medien. Er ist Gründer und ehemaliger Direktor des Fernsehsenders ARTE. Außerdem leitete er das Centre national de la cinématographie (CNC) sowie die Femis (dt. Europäische Stiftung der Bereiche Bild und Ton) sowie den Verwaltungsrat des Nationaltheaters Châtelet. Seit 2012 ist er Präsident des Kinofestivals Premiers Plans in Angers, seit 2020 ist er Präsident der Stiftung Seydoux-La Ruche. Clément ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Plus tard, tu comprendras“ (2005) oder „L’Urgence Culturelle“ (2016).