Interview
„Wir müssen unsere Abwehrkräfte stärken!“

22.02.2022

Woran liegt es, dass Verschwörungstheorien und insbesondere antisemitisches Gedankengut gerade in Krisenzeiten Zulauf gewinnen? Und welche Gegenmaßnahmen sollte man ergreifen? Uffa Jensen, stv. Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, im Interview.

 

1 - Die Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen waren für einige Menschen Gelegenheit, unverhohlen antisemitische Parolen zu grölen oder auf Plakaten vor sich her zu tragen. Warum hat ausgerechnet der Protest gegen die Pandemiepolitik einem so hemmungslosen Antisemitismus in der Öffentlichkeit wieder Aufschwung verliehen?

Die Corona-Pandemie stellt ja eine nie dagewesene Krise in Friedenszeiten dar, die weite Bereiche des öffentlichen Lebens lahmgelegt hat und jede Person so fundamental im Alltag betrifft, wie wir das sonst eigentlich nur von Kriegssituationen kennen.

Diese grundlegende Dimension muss man sich vor Augen führen, denn die in Teilen antisemitischen Reaktionen hängen mit dieser Situation der Ohnmacht zusammen.

Antisemitische Verschwörungsfantasien liefern Antworten auf eine unverständliche Lage.

Schon allein das Virusgeschehen selbst, der Ausbruch von COVID-19, die Produktion eines neuartigen Impfstoffes, all die virologischen Fakten – da schauen viele nicht durch. Zugleich macht dies Angst.

Man kann auf solche Gefühle mit einer fantastischen Verschwörungserklärung antworten. Das hat zwei Vorteile. Erstens versteht man vermeintlich das Unverständliche durch eine simple Schuldzuweisung an eine anonyme Macht jüdischer Verschwörer. Wenn die niemand kennt und sieht – umso besser, dann muss man auch keinen Beweis liefern. Und zweitens funktioniert das als Selbstermächtigung: Man kann sich die Lage erklären, während die anderen noch dumm sind.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt bei den Protesten: Viele Menschen laufen da ja mit Holocaust-Symbolen herum, etwa dem gelben Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“. Damit reklamiert man ein Opferstatus für sich, nach dem Motto: Ich bin ein Opfer dieser Pandemiepolitik, mit der die Regierenden – ggf. auch im Bunde mit jüdischen Personen – viel unlautere Ziele als die Virusbekämpfung verfolgen.

 

2 - Wie haben sich antisemitistisches Gedankengut bzw. Straftaten in Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren entwickelt?

Es ist schwierig, Straftaten wirklich zu vergleichen, weil die beiden Länder unterschiedliche Taten als Straftaten zählen und zudem auf andere Weise die Zahlen ermitteln. Deutschland (2016: 1799 antisemitische Straftaten, allerdings 2020: 2351) liegt im EU-Vergleich an der Spitze, was antisemitische Straftaten angeht. Allerdings misst Deutschland auch am konsequentesten, wie mir scheint. Frankreich (2016: 541) liegt auf dem 3. Platz.

In beiden Ländern ging die Entwicklung in der letzten Zeit deutlich nach oben. Warum das so ist? Sicher spielen die neuen Möglichkeiten durch das Internet bzw. die sozialen Medien eine Rolle:

Einmal als Ort, an dem man strafbare Handlungen begehen kann. Oder als Ort, wo man sich zu Taten in der Offline-Welt zusammenfindet.

Diskutiert wird zudem, ob dieser Anstieg mit einem stärker manifest werdenden Antisemitismus unter muslimischen Gruppen zusammenhängt. Besonders Juden und Jüdinnen berichten davon sehr oft; die Zahlen bei Straftaten in Deutschland sind aber nicht so hoch, wie man dadurch erwarten dürfte.

Was die antisemitischen Einstellungen angeht, liegen die beiden Länder nach einer neuen EU-weiten Studie aus Budapest im Mittelfeld. Beide weisen eine Gruppe auf, die mehr oder weniger deutlich antisemitisch ist, von einem Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung. Besser sind die Zahlen in Schweden, den Niederlanden oder in Großbritannien, dramatisch schlechter in Polen, Griechenland, Ungarn oder Österreich.

In Deutschland und Frankreich werden die Einstellungen durch den sogenannten israelbezogenen sowie den sekundären Antisemitismus relativ stark geprägt – letzterer richtet sich gegen die Erinnerung an den Holocaust und verharmlost oder leugnet diesen teilweise. Dagegen ist in anderen Ländern oft der alte Antisemitismus stärker.

 

3 - Richten wir den Blick nach vorne: Glauben Sie, dass langsam aber sicher die offene Gesellschaft über Vorurteile und Hass siegen wird? Oder fürchten Sie, dass sich die Situation verschlimmert?

Das ist eine schwierige Frage, da sich Wissenschaftler*innen und zumal Historiker*innen, wie ich es bin, mit Prognosen schwertun. Ich bin eher skeptisch – und zwar gar nicht nur wegen des gegenwärtigen Anstiegs.

Antisemitismus und Judenfeindschaft sind eine über zwei Jahrtausende eingeübte Ideologie und gesellschaftliche Praxis, die offenkundig in einer Krise leicht aktiviert werden kann.

Wieso sollte das nicht auch in der Zukunft funktionieren, zumal sich die Verbreitungswege aufgrund der sozialen Medien dynamisiert haben? Wenn wir uns unrealistische Ziele setzen, kann das schnell dazu führen, dass die gesellschaftliche Bereitschaft zu Gegenaktivitäten erlahmt.

Verkürzt gesagt sehen wir drei Gruppen in der Gesellschaft: eine antisemitische, eine anti-antisemitische und eine ignorant-unwissende, wobei letztere durchaus anfällig für Antisemitismus sein kann.

Ein wichtiges Ziel stellt eine Stärkung des anti-antisemitischen Lagers dar, wobei man hier in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte wachsende Erfolge erzielt hat – und zwar auf Kosten der ignoranten Gruppe.

Auch in der Gegenwart gibt es immer mehr Menschen, die Antisemitismus offen und aktiv ablehnen. Die antisemitische Gruppe ist hingegen über die Jahre relativ konstant geblieben, droht in Krisenzeiten aber aus dem ignoranten Lager Zulauf zu gewinnen. Das müssen wir verhindern und mit aller Kraft die Abwehrkräfte gegen Antisemitismus – um ein virologisches Bild zu nutzen – stärken.

 

4 - Welche Maßnahmen ergreifen Deutschland bzw. Frankreich im Kampf gegen den Antisemitismus? Und was wäre Ihr Vorschlag, um ihn noch stärker zurückzudrängen?

Ich kenne mich mit der Gesetzeslage in Frankreich nicht so gut aus, aber in Deutschland haben wir eigentlich ausreichend strafrechtliche Mittel, um gegen antisemitische Straftaten vorzugehen. Es ist nur so, dass wir mit dem Strafrecht in einem demokratischen Rechtstaat nicht jede Form von Antisemitismus bekämpfen können.

So sehr mir die Ablehnung von Antisemitismus wichtig ist, stehe ich den Forderungen mancher Aktivist*innen – aus nachvollziehbarer moralischer Empörung – nach einer Art Gesinnungsstrafrecht skeptisch gegenüber. Das könnte für die Gesellschaft – und im Zweifelfall bei einer anderen ‚Gesinnung‘, die vielen Bürgern nicht passt, – sehr schädlich sein. Gesetzliche Verschärfungen scheinen mir also nicht generell sinnvoll.

In der Tat sind zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen Antisemitismus in Deutschland wie Frankreich wichtig. Das muss gerade auch von Nichtjuden kommen.

Zudem sind mir Bildungsprozesse sehr wichtig. Man hat Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus in Deutschland – und z.T. auch Frankreich, wenn ich das richtig einschätze – vor allem als Aufklärung über den Nationalsozialismus behandelt.

Dabei vergisst man zu leicht die lange und prägende Geschichte des Antisemitismus in beiden Ländern. Da müssen wir eindeutig mehr tun, was aber längst nicht nur auf das klassische Schulsystem begrenzt sein sollte.

Denken wir auch an die Erwachsenenbildung oder an Berufsschulen, die in Deutschland ein wichtiger Bereich darstellen, um Jugendliche zu erreichen, die aber meines Wissens von antisemitismuskritischer Bildungsarbeit kaum in den Blick genommen wurden.


Prof. Dr. Uffa Jensen ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. In Kiel, Jerusalem, Berlin und New York City hat er Geschichte und Philosophie studiert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter forschte er an der Georg-August-Universität Göttingen und an der University of Sussex. 2017 erhielt er eine Heisenberg-Forschungsprofessur der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die am Zentrum für Antisemitismusforschung eingerichtet wurde.

Neben der Wissenschaftsgeschichte der Psycho-Wissenschaften, der transnationalen Geschichte sowie der modernen Emotionsgeschichte beschäftigt er sich mit der Emotionsgeschichte des Antisemitismus. In diesem Kontext entstand 2017 sein Buch „Zornpolitik“, das auch die Emotionen im gegenwärtigen Rechtspopulismus und -extremismus thematisiert.

Uffa Jensen ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises „Geschichte & Theorie“, der seit 1995 existiert. Er ist seit 2007 Mitglied der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in der Bundesrepublik Deutschland.