Interview
„Der Kampf gegen Antisemitismus muss von unten kommen“

29.11.2021

Weder die jüngsten antisemitischen Skandale im Rahmen von Coronaprotesten noch antijüdischer Hass auf Social Media dürften als „Spiegel der Gesellschaft“ interpretiert werden, sagt Nonna Mayer, Mitglied des französischen Beirats für Menschenrechte. Trotzdem bleibe noch sehr viel zu tun.

 

1 - Die Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen waren für einige Menschen Gelegenheit, unverhohlen antisemitische Parolen zu grölen oder auf Plakaten vor sich her zu tragen. Warum hat ausgerechnet der Protest gegen die Pandemiepolitik einem so hemmungslosen Antisemitismus in der Öffentlichkeit wieder Aufschwung verliehen?

Frankreich hat eine lange antisemitische Tradition: Sie reicht bis zum christlichen Anti-Judaismus zurück, der Jüdinnen und Juden als „gottesmordendes“ Volk bezeichnet. Ihren traurigen Höhepunkt erreichte sie unter dem Vichy-Regime, das mit den Nazis kollaborierte und ein Viertel der französischen Jüdinnen und Juden deportieren ließ.

Hinter diesem Antisemitismus steckt die Verschwörungstheorie, Juden hätten einen versteckten Einfluss. Im Mittelalter beschuldigte man sie, Brunnen vergiftet zu haben und die schwarze Pest zu verbreiten. Heute werden sie mit der Coronapandemie und den ergriffenen Maßnahmen in Verbindung gebracht.

In Frankreich hat ein Plakat von Cassandre Fristot, ehemaliges Mitglied des Rassemblement National, für einen Skandal gesorgt: Es bezeichnete Menschen aus Politik, Medien oder Wirtschaft, die einen jüdischen Namen tragen, als „Verräter“; manchmal wird zum Beispiel auch Emmanuel Macron als „Judenschlampe“ beschimpft, weil er einst für die Rothschild-Bank gearbeitet hat.

Zu diesen bewussten, ideologisch fundierten Angriffen, die bei französischen Rechtsextremen Tradition haben, kommt ein eher schleichender Antisemitismus. Er zeigt sich zum Beispiel, wenn Demonstrant*innen einen gelben Stern tragen oder den Gesundheits-Pass als „Nazi-Pass“ bezeichnen.

Wer die Aufforderung zum Impfen und zum Vorzeigen des Gesundheitspasses mit den antijïudischen Vichy-Gesetzen vergleicht, die tausenden Männer, Frauen und Kinder in den Tod getrieben haben, die*der relativiert und banalisiert den Holocaust und trägt dazu bei, die Geschichte auszulöschen.

Aber so schockierend diese Verhaltensweisen auch sein mögen, so sehr sind sie auch in der Minderheit bei den Demonstrationen, die wiederum selbst nur von einem Drittel der Bevölkerung unterstützt werden.

Man darf sie nicht aufblasen.

 

2 - Wie haben sich antisemitistisches Gedankengut bzw. Straftaten in Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren entwickelt?

Die sozialen Netzwerke haben einen neuen Raum eröffnet, in dem antisemitische, rassistische oder homophobe Diskurse ungebremst zirkulieren können. Unter einem Pseudonym traut man sich eher, mal einen Spruch rauszuhauen. Außerdem bleibt man auf Social Media eher unter sich: die Algorithmen bringen Menschen mit ähnlichem Profil und ähnlichen Vorlieben zusammen. So bleibt jede*r in ihrer*seiner Filterblase und das kann dazu führen, dass alle einander in ihren Äußerungen überbieten wollen.

Aber man kann von Social Media keine allgemeinen Schlüsse ziehen, das würde zu einem verzerrten Spiegelbild führen. Die jährliche Studie des CNCDH zeigt etwa, dass – ganz im Gegenteil – antisemitisches Gedankengut seit 30 Jahren zurückgeht.

Antisemitische Straftaten hingegen gehen seit der zweiten Intifada Ende 2000 steil nach oben: Wenn Israel eine Offensive gegen die palästinensischen Gebiete fährt, schlägt die Kurve regelmäßig nach oben aus, bis hin zu 1.000 Straftaten (zum Vergleich: 2017 gab es 311, 2020 gab es 339).

  • Die meisten Straftaten, die die Polizei jährlich verzeichnet, sind Bedrohungen in Worten, Gesten, Briefen oder Flyern. Gewalttaten im engeren Sinne gegen Jüdinnen und Juden machen zwischen einem Drittel und einem Viertel der polizeilich erfassten Straftaten aus.
  • Die tödlichsten Angriffe werden im Namen des Djihad begangen (4 Tote in Toulouse in 2012, 4 Tote im Hyper Cacher von Paris in 2015); gefolgt von niederträchtigen Angriffen auf Jüdinnen und Juden, „weil sie viel Geld haben“ – diesen Attacken fielen zum Beispiel Ilan Halimi (2006) oder die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll (2018) zum Opfer.
  • Der Rest der Straftaten setzt sich aus Bedrohungen zusammen, aus Beschimpfungen, beleidigenden Gesten, Briefen und anderen unsozialen Verhaltensweisen, die zwar objektiv weniger „schlimm“ sind, aber das Leben der Opfer trotzdem stark belasten.

 

3 - Richten wir den Blick nach vorne: Glauben Sie, dass langsam aber sicher die offene Gesellschaft über Vorurteile und Hass siegen wird? Oder fürchten Sie, dass sich die Situation verschlimmert?

Gut ist, dass die jährliche Umfrage des CNCDH einen leichten Rückgang der Vorurteile zeigt – nicht nur über Jüdinnen und Juden, sondern auch gegen Muslim*innen, Schwarzen oder Sinti und Roma. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand nur ein Drittel der Menschen in Frankreich, dass Jüdinnen und Juden „Französinnen und Franzosen wie alle anderen“ sind. Heute sind es 90 % und in 2021 fanden Dreiviertel dass „ein entschlossener Kampf gegen den Antisemitismus in Frankreich nötig ist“ – ein Rekord.

Jede neue Generation ist toleranter als die vorige, weil das Bildungsniveau kontinuierlich steigt und Frankreich eine immer multikulturellere Gesellschaft wird.

Auf der anderen Seite muss man leider feststellen, dass alte Stereotype, die Juden zum Beispiel mit Geld oder Macht in Verbindung bringen, fortbestehen und dass das Niveau antisemitischer Straftaten nach wie vor hoch ist (339 in 2020; zum Vergleich: 234 Straftaten wurden gegen Muslim*innen begangen).

Einerseits kann man seit 2000 einen „neuen“ Antisemitismus beobachten, der vor allem auf einem Antizionismus beruht und angestachelt wird vom Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten.

Andererseits stellen wir fest, dass es seit der Demonstration gegen Hollande 2014 auch eine Rückkehr des „alten“ Antisemitismus aus der rechtsextremen Ecke gibt, der sich etwa in einigen Gelbwesten-Demos (2018-19) oder bei den Demos gegen den Gesundheitspass gezeigt hat.

Dieses Klima stärkt bei jüdischen Menschen in Frankreich ein Gefühl der Unsicherheit:

Ein Viertel von ihnen erwägt ernsthaft, nach Israel auszuwandern; andere überlegen, in sicherere Viertel zu ziehen oder sichtbare Zeichen ihres Glaubens zu verstecken.

 

4 - Welche Maßnahmen ergreifen Deutschland bzw. Frankreich im Kampf gegen den Antisemitismus? Und was wäre Ihr Vorschlag, um ihn noch stärker zurückzudrängen?

Frankreich hat ein ganzes legislatives Arsenal: Das Gesetz von 1881 zur Pressefreiheit, das Antirassismus-Gesetz von Pleven (1972) oder das Gesetz von Gayssot (1990), das die Verleumdung des Holocaust strafbar macht. Das Gesetz von Avia (2020) hat die Möglichkeiten gestärkt, gegen Hate Speech im Internet vorzugehen. Die Plattform „Pharos“ (Plattform zur Harmonisierung, Analyse, Zusammenführung und Weiterleitung von Meldungen) leistet beachtliche Arbeit, um das Internet von strafbaren Inhalten zu reinigen. Die DILCRAH (Interministerielle Abteilung für den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und LGBTQI-Hass) entwickelt seit 2012 einen Plan nach dem anderen, um Menschen zu sensibilisieren und weiterzubilden und um seine Erkenntnisse vorzustellen.

Aber ein wirklich effizienter Kampf gegen Antisemitismus muss von unten kommen: aus der Zivilgesellschaft, von Vereinen, die sich im Alltag für ein gemeinschaftliches Miteinander einsetzen und die gegen jegliche Form von Rassismus kämpfen.

Bildung ist ganz zentral, damit Menschen kritisch zu denken, sich anderen Religionen und Kulturen gegenüber öffnen und Ereignisse in einen historischen und vergleichenden Kontext einordnen können.

Und schließlich ist auch Humor eine wichtige Waffe, die rassistische und antisemitische Stereotype ins Lächerliche zieht.


Nonna Mayer ist emeritierte Forschungsdirektorin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und am Zentrum für vergleichende Europa- und Politikwissenschaft (CEE) an der Sciences Po. Von 2005 bis 2016 war sie war Präsidentin des Französischen Vereins für Politikwissenschaft. Seit 2017 ist sie Mitglied des Nationalen Beirats für Menschenrechte, wo sie das jährliche Rassismus-Barometer koordiniert.