Interview
Wie kann die europäische Zivilgesellschaft nachhaltig gestärkt werden?
21.05.2021
Die Politikanalystin Sophie Pornschlegel beantwortet diese und weitere Fragen: Wie steht es um gesellschaftlichen Zusammenhalt und um den deutsch-französischen Motor in Europa? Und wohin wird ihre erste „Post-Corona-Reise“ gehen?
1 - Seit der Coronakrise wird viel über Solidarität gesprochen, innerhalb von Gesellschaften, aber auch zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten. Wie steht es derzeit um den europäischen gesellschaftlichen Zusammenhalt? Und welche Rolle kann Europa wiederum für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf nationaler Ebene spielen?
Bisher konzentriert sich die EU vor allem auf den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen 27 Mitgliedstaaten, basierend auf einer zwischenstaatlichen Solidarität. Gerade in der Corona-Krise hat man gesehen, dass dieser Zusammenhalt nicht immer selbstverständlich ist: Manche EU-Mitgliedsländern glauben weiterhin, dass sie in einer globalisierten Welt als Nationalstaaten alleine besser zurechtkommen, was aus meiner Sicht kurzsichtig ist und nicht im Interesse der Bürger*innen in der EU.
Bisher hat sich die EU eher wenig mit dem Zusammenhalt auf zwischenmenschlicher Ebene beschäftigt. Das hat auch damit zu tun, dass ihr dafür die politische Souveränität fehlt und es weiterhin als Aufgabe der Staaten gesehen wird.
Doch mit den wachsenden Spaltungen in der EU, die nach der Corona-Krise potenziell noch weiter verschärft werden, wird sich die EU zunehmend mit gesellschaftlichem Zusammenhalt beschäftigen müssen.
Deshalb sollte die EU ihre Wirtschafts- und Währungsunion enger mit der Sozialpolitik zusammendenken. Leider stehen da vor allem die Mitgliedsländer im Weg, die sich sträuben, der EU mehr Kompetenzen in sozialen Fragen zu geben, aus Angst, dass dadurch ihre eigenen Standards zurückgesetzt werden könnten. Das widerspricht aber den Wünschen der EU-Bürger*innen, die sich weniger eine EU mit starker Marktorientierung wünschen, als eine EU, die sie schützt.
2 - Vor wenigen Tagen fiel der Startschuss für die Konferenz zur Zukunft Europas, die das Ziel hat, „den Menschen in Europa mehr Mitspracherecht“ zu geben. Gleichzeitig gewinnt in Fachkreisen das Konzept „shrinking spaces“ an Bedeutung: fehlende finanzielle Mittel, institutionelle Reformen oder Gewaltandrohungen lassen den Handlungsspielraum für zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenschrumpfen – die Coronakrise tut ein Übriges. Wie kann die europäische Zivilgesellschaft nachhaltig gestärkt werden?
Ich unterscheide zwischen Bürgerbeteiligung und organisierter Zivilgesellschaft, auch wenn beide natürlich zusammenhängen und eine wichtige Rolle in der Demokratie spielen. Aber die Kanäle der Repräsentation sind sehr unterschiedlich:
- Bürger*innen sollen dank deliberativer Formate ein größeres Mitspracherecht erhalten – das soll dank der Konferenz zur Zukunft Europas geschehen.
- Die organisierte Zivilgesellschaft hingegen repräsentiert bestimmte Interessen, bspw. Arbeitnehmerrechte, Menschenrechte, Umweltschutz, etc. Sie vertreten bereits ihre Interessen in Brüssel, auch wenn sie natürlich nicht dieselben Mittel wie privatwirtschaftliche Verbände und Unternehmen haben.
Darüber hinaus ist die europäische Zivilgesellschaft ist seit einigen Jahren unter Druck geraten. Manche Regierungen erschweren oder verbieten sogar die Arbeit von Organisationen, die ihnen nicht ins Bild passen, bspw. die sich für Rechtsstaatlichkeit oder für Selbstbestimmungsrechte von Frauen einsetzen. Auch unabhängige Medienorganisationen haben sind zunehmend eingeschränkt, wie zuletzt der unabhängige Radiokanal „Klubrádió” in Ungarn.
Der EU ist inzwischen bewusstgeworden, dass insbesondere Medienpluralismus aufrechterhalten werden muss. Aber die europäische Kommission setzt sich noch nicht genug für die Zivilgesellschaft ein. Dafür bräuchte es zunächst einmal eine Strategie, wie die EU die Zivilgesellschaft unterstützen möchte; mehr finanzielle Ressourcen, die direkt an die Organisationen fließen können, auch wenn diese sich nicht direkt mit der EU beschäftigen, aber demokratische Werte unterstützen; und Zivilgesellschaft sollte in die EU-Kohäsionspolitik mit aufgenommen werden als Kriterium, für das die Regionen Geld erhalten können.
3 - In wenigen Monaten wählen die Deutschen einen neuen Bundestag, in einem Jahr sind Präsidentschaftswahlen in Frankreich. In welchem Zustand ist die deutsch-französische Zusammenarbeit zum Ende der Amtszeit von Angela Merkel und Emmanuel Macron – und welche Rolle wird der „deutsch-französische Motor Europas“ in naher Zukunft spielen?
Es wird grundsätzlich unterschätzt, wie wichtig nationale Wahlen für die EU sind, insbesondere in so großen Ländern wie Frankreich und Deutschland.
Im Europäischen Rat sitzen die Staats- und Regierungschefs; im Rat der EU die jeweiligen Minister*innen aus den Kabinetten, die als Ko-Gesetzgeber alle EU-Initiativen blockieren können. Wenn also die nationalen Regierungen sich nicht für die EU interessieren oder euroskeptische Einstellung vorweisen, dann hat das fatale Auswirkungen für die EU. Schon allein deshalb sollte Europapolitik eine viel wichtigere Rolle in nationalen Wahlen spielen – bisher ist es bestenfalls ein Randthema in den nationalen Wahlkampagnen.
Die Bundestagswahlen und die französische Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr werden definitiv eine große Auswirkung auf die deutsch-französischen Beziehungen und die Europapolitik haben. Beide Länder haben weiterhin eine zentrale Rolle, um Süd- und Nordeuropa zusammenzubringen, aber auch andere Zentrifugalkräfte in Schach zu halten. Es gibt leider keine anderen konstruktiven Allianzen in der EU. Zwar gibt es die Visegrád-Staaten oder die Hanseatische Liga, aber diese sind Allianzen von gemeinsamen Interessen, um weitere EU-Integrationsschritte zu blockieren – sie schlagen nichts Konstruktives vor. Deshalb bleibt der deutsch-französische Motor so wichtig, um die „europäischen Interesse” zu stärken.
Da gibt es aber noch viel Arbeit: Die Corona-Krise hat gezeigt, wie viele Ressentiments auf beiden Seiten noch existieren und wie wenig wir voneinander wissen. Außerdem waren unter Macron und Merkel die Beziehungen nicht die besten: Die Politikstile waren sehr unterschiedlich und nach der Sorbonne-Rede von Macron im September 2017 hat Deutschland erstmal nicht reagiert, und dann war es zu spät. Trotzdem konnten im Juni 2020 die Weichen gestellt werden für den EU-Wiederaufbaufonds dank einer deutsch-französischen Initiative. Das zeigt aber:
Die Beziehungen sind alles andere als selbstverständlich, und es bleibt noch viel Arbeit, damit der „Motor” nicht nur in Krisenmomenten funktioniert.
4 - Europa, das bedeutet auch grenzenloses Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen und Kulturen – beides ist seit Monaten coronabedingt kaum oder gar nicht möglich. Sobald Sie wieder können: In welches europäische Land wird es Sie als erstes ziehen und warum?
Meine erste Arbeitsreise geht nach Istanbul, um dort eine Rede zu halten zur deutsch-französischen Versöhnung vor einer Reihe junger türkischer Politiker*innen und Beamt*innen im Rahmen eines Projekts, das durch den Europarat und der Stiftung Mercator finanziert wird. Ich finde es wichtig, diesen „Blick von außen” auf Europa zu werfen. Meistens ist es eine gute Art und Weise, die Rolle der EU in der Welt zu reflektieren und sich zu vergegenwärtigen, welche Werte wir vertreten möchten.
Außerdem finde ich es wichtig, regelmäßig die Erfahrung zu machen, ein bisschen verloren zu sein, weil man die Sprache nicht spricht. Das hilft ungemein, eine größere Toleranz für das „Ausländer-Dasein” zu entwickeln.
Reisen hilft auch immer, kulturelle Unterschiede besser zu verstehen und sich der eigenen „nationalen Brille” bewusst zu werden.
Deshalb hoffe ich auch, dass bald wieder das DiscoverEU-Programm genutzt werden kann, das allen jungen Europäer*innen ermöglicht, mit dem Zug Europa zu erkunden.
Sophie Pornschlegel ist Politikanalystin am Brüsseler Think Tank „European Policy Centre” und Projektleiterin der Initiative „Connecting Europe” mit der Stiftung Mercator, die Zivilgesellschaft mit Europapolitik vernetzt. Als Fellow der Karlspreis Academy forscht sie in diesem Jahr zu EU-Solidarität. Sie ist Deutsch-Französin, kommt aus Freiburg im Breisgau und hat bei Sciences Po Paris und der London School of Economics (LSE) studiert.