Interview
„Die Demokratie geht uns alle an!“

28.06.2021

Es wird: Bürgerbeteiligung ist auf lokaler, nationaler und sogar europäischer Ebene auf dem Vormarsch. Wo es trotzdem noch hakt und worauf man für erfolgreiche Teilhabeformate achten sollte, erklärt Sarah Grau, Co-Leiterin des Think tanks „Décider ensemble“.

 

1 - „Décider ensemble“ ist ein französischer Think tank, der 2005 mit dem Ziel gegründet wurde, „eine Kultur der Teilhabe“ zu verbreiten. Wie hat sich die Meinung über Teilhabeformate in der Öffentlichkeit und in der Politik seitdem entwickelt?

Ich würde eine zweigeteilte Bilanz ziehen:

Bürgerschaftliche Teilhabe ist wichtiger geworden und hat sich zu einem Thema entwickelt, um das Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen kaum mehr herumkommen. Zum Beispiel hatten bei den französischen Kommunalwahlen 2020 zahlreiche Kandidaten das Thema in ihrem Programm und mehr als 400 Bürgerlisten wurden gezählt.

Sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene entstehen immer neue demokratische Innovationen.

Langsam aber sicher entwickelt sich in Frankreich eine Kultur der Teilhabe, selbst wenn es noch etwas dauern wird, bis wirklich alle Akteur*innen sie verinnerlicht haben – Politiker*innen, Verwaltungsangestellte, Bürger*innen, Unternehmen usw.

Trotzdem geht es aktuell noch zu langsam voran: Obwohl neue demokratische Formate entstehen, verschlimmert sich die Vertrauenskrise zwischen Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen. Zudem ist das Zusammenspiel zwischen repräsentativer Demokratie und partizipativer Demokratie noch nicht geklärt. Noch zu selten können Bürger*innen bei Teilhabe-Initiativen am Ende wirklich mitbestimmen.

Wir müssen also auch weiterhin hinterfragen, wie in unserem Land Entscheidungen getroffen werden; wir müssen es schaffen, dass die bereits bestehenden Möglichkeiten für Beteiligung auch genutzt werden; und wir müssen neue Methoden finden, um gemeinsam entscheiden zu können. Genau darum geht es in unserem Sammelband „Ins Schleudern geraten: die Demokratie“, in dem verschiedene Akteur*innen erklären, wie wir unsere Entscheidungsprozesse erneuern können.

 

2 - Das bekannteste Beispiel ist in diesen Tagen sicherlich die Konferenz zur Zukunft Europas. Der Bürgerfonds hat einen deutsch-französischen Bürgerrat unterstützt, bei dem Ideen für eine bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit entwickelt wurden. Können Sie weitere mögliche Formate für Teilhabe vorstellen?

In Frankreich gibt es zahlreiche Formate: Bei Fragen der Gebietsentwicklung zum Beispiel, müssen mehrere lokale Instanzen eingebunden werden, etwa der Gemeinderat, ein Bürgerrat oder ein Rat für Entwicklung. Andere Strukturen können freiwillig hinzugezogen werden, wie etwa ein Jugend- oder Seniorenrat oder lokale Bürgerkonvents. Es können auch ganz spezifische Formate geschaffen werden, wie zum Beispiel ein partizipatives Budget. Dabei muss man immer auch darauf achten, dass bei all den verschiedenen Beteiligten nicht zu viel Verwirrung entsteht.

Wie genau die Abstimmung zu einem Projekt aussieht, etwa zur Neugestaltung der Innenstadt, ist ganz unterschiedlich: öffentliche Versammlungen, Arbeitsgruppen, Online-Plattform, Erkundungsrundgang, World Café usw.

Oft ist eine Kombination verschiedener Formate – je nach Ziel und Zielgruppe – der Schlüssel für einen gelungenen Austausch.

Der französische Bürgerrat für das Klima mit 150 ausgelosten Bürger*innen hat gezeigt, dass innovative Formate auch auf nationaler Ebene umgesetzt werden können. Leider ist das Ergebnis aber enttäuschend: Entgegen vorheriger Versprechungen des Präsidenten wurde nur ein Teil der Vorschläge in das neue Klimagesetz übernommen. Das zeigt einmal mehr:

Ein Teilhabe-Projekt ist nur dann glaubwürdig, wenn die Spielregeln von Anfang an klar kommuniziert und dann auch befolgt werden.

 

3 - Wie viel Potenzial steckt wirklich in solchen Formaten: Richten sie sich nicht immer an ein Publikum, das ohnehin schon (politik-)interessiert ist? Oder (wie) schaffen sie es, auch Menschen zu erreichen, die nicht bereits bürgerschaftlich oder politisch engagiert sind?

Bürgerbeteiligung strebt immer danach, all jene Personen zu erreichen, die sich zu einem bestimmten Thema austauschen sollen. Ansonsten kommt zu folgenden Phänomenen: Bei öffentlichen Versammlungen etwa, oder auch in lokalen Instanzen der Bürgerbeteiligung findet man oft Personen, die sich bereits anderweitig in Politik oder Vereinswesen engagieren, sowie ältere Menschen, die genug Zeit haben. Wie in anderen Bereichen, hört man auch in Beteiligungsformaten häufiger Männer als Frauen und eher weniger Personen, die Minderheiten angehören.

Bevor man einen Teilhabe-Prozess startet, ist es also ganz wichtig, die Zielgruppen zu identifizieren und die richtigen Methoden und Tools bereitzustellen, um sie zu erreichen und allen die Möglichkeit zu geben, an der Diskussion teilzunehmen.

Oft kann man die Teilnehmerschaft erweitern, indem digitale und analoge Herangehensweisen kombiniert werden. Es kann auch helfen, die Personen direkt in ihrer gewohnten Umgebung anzusprechen – vor der Schule, in Parks oder auf dem Markt. Wenn man auf die Menschen zugeht, kann man in einem informellen Rahmen das Projekt vorstellen und ihre Eindrücke oder Ideen aufnehmen.

Ein anderer Weg, der immer häufiger gewählt wird, ist das Losverfahren: Es erreicht auch Menschen, die nicht von sich aus auf die Idee gekommen wären, teilzunehmen, und schafft eine vielfältige Gruppe.

Und schließlich wäre es enorm wirksam, schon die Kleinsten zu mündigen Bürger*innen zu erziehen, um die ganze Bevölkerung an die Teilhabe am öffentlichen Leben und an Entscheidungsprozessen heranzuführen.

 

4 - 2021 hat „Décider ensemble“ die „Rencontres de la participation“ („Treffen für Teilhabe“) zum ersten Mal auf eine europäische Ebene gestellt. Warum?

„Décider ensemble“ setzt sich jeden Tag für eine Kultur der Teilhabe und der gemeinsam getroffenen Entscheidungen ein: im öffentlichen Diskurs ebenso wie in den Entscheidungssystemen selbst. Dieses Engagement macht nicht an der Landesgrenze halt und muss auf allen Ebenen wirken – lokal, national, europäisch und international.

Obwohl die europäischen Institutionen großen Einfluss auf unser tägliches Leben haben, sind sie noch zu wenig mit den Bürger*innen verbunden: es gibt viele verschiedene Instanzen, sie sind unverständlich, nicht sehr transparent, sozial und geografisch weit weg. Die EU muss ihre Beziehung zu den Bürger*innen neu erfinden und starke Maßnahmen für die Stärkung der Demokratie ergreifen. Die Konferenz zur Zukunft Europas wurde geschaffen, um gemeinsam die Zukunft unseres Kontinents zu gestalten. Wir verfolgen mit großem Interesse die Herangehensweise und die Ergebnisse und werden genau darüber auch bei den „Rencontres“ sprechen.

Mit dieser neuen europäischen Ausrichtung können wir besser verstehen, wie Teilhabe auf lokaler oder nationaler Ebene in anderen Ländern organisiert wird – und unsere Überlegungen mit anderen Akteur*innen teilen.

Wir alle, die wir uns für die Demokratie einsetzen, können von der Kultur und der Praxis der Teilhabe in unseren Nachbarländern lernen und uns inspirieren lassen.

Dieser Erfahrungsaustausch ist eine außergewöhnliche Bereicherung und wird bei den „Rencontres“ eine wichtige Rolle spielen.

Die Demokratie geht uns alle an: Lasst uns gemeinsam Ideen sammeln!


Sarah Grau hat an der Sciences Po Bordeaux studiert. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als parlamentarische Mitarbeiterin bei einer Abgeordneten, die der Kommission für nachhaltige Entwicklung und Raumordnungspolitik angehörte. Anschließend übernahm Sarah Grau die Leitung des Think tanks „La Fabrique Ecologique“, und wurde dann Co-Leiterin von „Décider ensemble“. Der Verein „Décider ensemble“ bringt Akteur*innen aus den Bereichen Teilhabe, Abstimmung und Dialog zwischen verschiedenen Steakholdern zusammen und setzt sich für eine Kultur der gemeinsam getroffenen und getragenen Entscheidungen ein.