Interview
Europa auf Sendung!

26.05.2021

Das französische Bürger*innen-Radio euradio hat es sich zum Ziel gesetzt, Europa vor Ort zu erzählen und Euroskepsis entgegenzuwirken. „Statt über Klischees zu diskutieren, zeigen wir diejenigen, die all das nutzen, was Europa zu bieten hat“, sagt Gründerin Laurence Aubron. Wie, erklärt sie im Interview.

 

1 - Mit euradio setzen Sie sich seit 2007 dafür ein, dass Europa für Ihre Zuhörerschaft greifbarer wird – Ihr Leitspruch lautet „Europa vor Ort“. Welche Vorurteile über Europa würden Sie bestätigen und wo möchten Sie widersprechen?

Vorurteile über Europa müssen weder bestätigt noch widerlegt werden, denn es wird sie immer geben. Mit euradio möchten wir sie unsichtbar zu machen, damit die Leute sie nach und nach vergessen. Dafür sehen wir uns bei den Initiativen vor Ort um:

Statt über Klischees zu diskutieren, zeigen wir diejenigen, die all das nutzen, was Europa zu bieten hat – Begegnungen, Finanzierungen, Austausche –, um konstruktive Projekte zu entwickeln, sei es auf lokaler Ebene oder in internationaler Zusammenarbeit.

Viele Grenzgebiete haben dieses Potenzial verstanden und gehen als Vorreiter voran.

Nicht zuletzt stellt sich ja auch die Frage: Von welchem Europa sprechen wir? Europa als geografische Einheit? Europa als historische Entwicklung? Von den europäischen Institutionen? Von dem Gemeinschaftsprojekt, das die EU-Mitgliedsstaaten zusammen aufbauen?

Eine Sache kann ich aber doch bestätigen: Die Menschen in Frankreich interessieren sich für Europa, aber wissen nicht gut über die Funktionsweise seiner Institutionen, über den Binnenmarkt oder über das Verhältnis von französischer und europäischer Politik Bescheid. Sie fremdeln ein wenig mit dem europäischen Projekt. Aber sobald man sich die Zeit nimmt, sie zu informieren und Geschichten mit ihrem Alltag vor Ort zu verknüpfen, weckt man ihr Interesse. Europa muss ganz konkret verkörpert werden.

Das europäische Projekt beruht sowohl auf der Wertschätzung unserer Unterschiede und unserer Eigenheiten als auch auf gemeinsamen Werten und einer geteilten Geschichte. Das macht Europa so einzigartig und bereichernd!

 

2 - euradio wurde in Nantes gegründet, ist aber heute in rund 15 französischen Städten aktiv – und Sie arbeiten sogar daran, nach Deutschland und Belgien zu gehen. Heißt das, dass das Publikum in Frankreich und im Ausland immer europhiler wird?

Was die Zugehörigkeit zu Europa angeht, haben die Französinnen und Franzosen manchmal eher gemischte Gefühle – man muss nur einen Blick in die Meinungsumfragen werfen. Mit euradio wollen wir all jene zusammenbringen, die an Europa glauben und von seiner Notwendigkeit überzeugt sind.

Durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte können wir immer schneller reisen, immer einfacher kommunizieren und damit Menschen in anderen Ländern immer einfacher kennenlernen. Diese Horizonterweiterung bringt auch ein erweitertes Informationsbedürfnis mit sich: Wir möchten wissen, was außerhalb unserer Landesgrenzen passiert. Die europäischen Nachbar*innen stehen vor ähnlichen Chancen und Herausforderungen und wir sind uns nah genug, um einander zuzuhören – und weit genug entfernt, um die Initiativen der anderen interessant zu finden.

Am besten ist es natürlich, wenn europäische Lösungen von allen getragen werden. Paradoxerweise waren die Brexit-Verhandlungen ein europäischer Kraftakt, bei der die Einigkeit im Interesse der Bürger*innen im Vordergrund stand. Jetzt müssen die Ergebnisse in der Praxis umgesetzt werden.

Die Erweiterung von euradio ist vor allem eine gezielte Entscheidung, um neue technologische Entwicklungen zu nutzen. Frankreich springt gerade auf den Zug der DAB+-Technik auf. Wir möchten euradio zu dem Medium für ein lebendiges Europa im Alltag machen: mit einem Programm, das ein vielfältiges, niedrigschwelliges Europa zeigt, samt seiner gemeinschaftlichen Errungenschaften aber auch seiner Hürden. Mit Musik von Künstler*innen aus allen Ländern und mit Hintergrund-Berichten über Themen oder Gegenden, die nicht so oft beleuchtet werden.

 

3 - Nationale Egoismen, mangelhafte Abstimmung, Langsamkeit … Europa sieht sich oft zahlreichen Vorwürfen ausgesetzt. Wie und warum kann man dieser Euroskepsis widerstehen?

Warum? Weil es ohne Europa keine Zukunft für alle Länder der EU geben kann, auch nicht für Deutschland oder Frankreich. Unsere Meinungsfreiheit, unsere Lebensweise, unsere Souveränität in wirtschaftlichen, finanziellen oder militärischen Fragen, unsere Forschung, unser Zugang zum Weltraum: all das wäre stark eingeschränkt, vor allem durch die USA und China. Sollte die Europafeindlichkeit siegen, kann die UE die gemeinschaftlichen Herausforderungen, die uns alle betreffen und für die wir Lösungen finden müssen, nicht mit der nötigen Stärke angehen.

Am besten kann man gegen Europafeindlichkeit vorgehen, indem man Europa erklärt – jeden Tag, immer wieder aufs Neue.

Erklären, dass Europa ein Vorteil für all seine Mitgliedsstaaten ist und keine abstrakte Superstruktur, die zerstört, worauf sie aufbaut. Solange wir gemeinsam an unserer Zukunft arbeiten und einander respektieren, können wir uns sowohl als Deutsche*r, als Franzose oder Französin und eben auch als Europäer*innen definieren.

Europafeindlichkeit bekämpft man, indem man Lust darauf macht, Europäer*in zu sein! Zu zeigen und dazu stehen, wer wir sind: Jede*r trägt seine eigene Geschichte und Kultur zu diesem Gemeinschaftsprojekt bei.

Europa zielt darauf ab, nationale Strukturen zu überwinden – sei es den französischen Jakobinismus oder den deutschen Föderalismus. Stellen Sie sich nur mal vor, Europa würde von allen europäischen Bürger*innen unterstützt, egal, aus welchem Land sie kommen, welche Kultur sie haben oder welcher Berufsgruppe sie angehören. Was wäre das für eine Wucht!

 

4 - euradio beschreibt sich selbst als „Bürger*innen-Radio“. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Bürgerbeteiligungsprojekt der Konferenz zur Zukunft Europas?

Noch ist es natürlich zu früh für eine Bewertung, aber natürlich verfolgt euradio die Konferenz zur Zukunft Europas gespannt. Aus unserer Sicht ist es sehr lobenswert und vor allem notwendig, die Bürger*innen und ihre Erwartungen bei der Definition einer gemeinsamen Zukunft mit einzubeziehen. Man merkt: Die Bürger*innen möchten, dass ihre Stimme zählt. Das stimmt positiv, wo doch andererseits zu oft eine niedrige Wahlbeteiligung beklagt wird.

Die Idee der bürgerschaftlichen Mitbestimmung verfolgen wir auch mit euradio seit gut 15 Jahren: zunächst in Nantes, heute in ganz Frankreich und in Brüssel. Das Einbeziehen der Zivilgesellschaft – Personen allen Alters und jeglicher Herkunft, Vereine, Gebietskörperschaften, Firmen – war schon immer das Herzstück von euradio und ist eine unserer großen Stärken.

Die Zukunftskonferenz verfolgt auf paneuropäischer Ebene ähnliche Ziele und ist daher sehr interessant. In Frankreich wird die Dynamik vielleicht sogar noch verstärkt, weil Frankreich Anfang 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird.

euradio hat natürlich den Start der Zukunftskonferenz am 9. Mai in Straßburg verfolgt. Jetzt muss man sehen, wie die Menschen vor Ort eingebunden werden, wie ihnen Gehör geschenkt wird und welche Antworten dann tatsächlich gegeben werden.

 

5 - Ein Zugehörigkeitsgefühl zu Europa entsteht nicht nur durch Information, sondern auch durch Kultur. Auf euradio gibt es ein europäisches Musikprogramm. Wie klingt Europa im Moment für Sie?

Nach den langen Monaten der Pandemie, in denen die kulturellen Orte geschlossen waren, sehnen sich viele europäische Bürger*innen nach Kultur! Bei euradio sehen wir die Kultur auch als einen zentralen Schlüssel zu einem europäischen Zugehörigkeitsgefühl.

Als Radio setzen wir dafür natürlich vor allem auf Musik. Seit 2007 füllen wir einen Großteil unseres musikalischen Programms mit unabhängigen Musiker*innen aus ganz Europa. Im September haben wir dieses einzigartige Programm erweitert und gefestigt: Vielfalt, Neuheit und Geschlechtergerechtigkeit sind die neuen Stichworte.

  • Vielfalt: euradio spielt pro Monat im Schnitt 1.200 neue Titel, was bei Weitem nicht alle Radios von sich behaupten können. Diese Vielfalt zeigt sich in verschiedenen Stile und zahlreichen Sprachen: Französisch, Englisch, aber auch Deutsch, Spanisch, Italienisch, Finnisch, Türkisch, Griechisch, Ungarisch, Gallisch, Bretonisch …
  • Neuheit: euradio hat sich schon immer für Newcomer*innen interessiert. 80 % der Titel, die wir spielen, sind nicht älter als 1 Jahr.
  • Geschlechtergerechtigkeit: die Playlist von euradio beinhaltet genauso viele weibliche wie männliche Künstler*innen. Geschlechtergerechtigkeit liegt uns am Herzen und ich bin überzeugt, dass Europa hier als Vorbild vorangehen kann und muss!

Laurence Aubron ist Gründerin und Leiterin von euradio. 1993 beginnt sie ihre journalistische Karriere beim Bürgerradio JetFM, wo sie ab 2001 die Frühsendungen moderiert und koordinniert. 2005 ruft sie das Projekt Euradionantes ins Leben, das ab 2015 unter dem neuen Namen euradio in anderen Städten auf Sendung geht. Laurence Aubron trägt die Ehrentitel Chevalier de l'Ordre national du Mérite (2010) und Officier de l'Ordre national du Mérite (2016). 2019 wurde sie für die Women of Europa Awards nominiert.