Interview
Leuchtturmbericht: Deutsch-französischer Bürgerrat
28.05.2021
Der deutsch-französische Bürgerrat ist eines der ersten 3 Leuchtturmprojekte, die der Bürgerfonds fördert. Er bringt erstmals Bürger*innen beider Länder in diesem Format der deliberativen Demokratie zusammen, das dies- und jenseits auf wachsendes Interesse stößt – und das in einer Zeit, in der alltäglicher Austausch und Reisen durch die Coronapandemie erschwert ist.
Übersicht:
Projektsteckbrief
build Trägerorganisation: Particip'action / Missions Publiques
group Partnerorganisation: Stabsstelle der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung (Baden-Württemberg)
event Zeitraum: Dezember 2020 (Vorprojekt) - April 2021
pin_drop Ort: online
euro Fördersumme: ca. 80.000 €
Teil 1: Interview „Stand der Dinge“
3 Mal hat der deutsch-französische Bürgerrat bereits getagt und Bürger*innen aus Baden-Württemberg und Grand Est haben über grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Coronazeiten debattiert. Die Projektkoordinatorin Manon Potet erzählt von den Herausforderungen und teilt erste Vorschläge, die bei den Diskussionen entstanden sind.
1 - Wie entstand die Idee zu einem deutsch-französischen Bürgerrat?
Die Idee hatten wir zum Höhepunkt der Coronakrise. Das Senken der Schlagbäume im Frühjahr 2020 in der Region Oberrhein, für deren Bewohner*innen die Grenze normalerweise gar keine Rolle mehr spielt, hat gezeigt:
Austausch und Zusammenarbeit sind keine Selbstverständlichkeit.
Unser Ziel ist es daher, Lehren aus dieser Ausnahmesituation zu ziehen, um den Zusammenhalt sowie das das gemeinschaftliche Zusammenleben und Gestalten der Grenzregion zu stärken. Dabei sollten vor allem diejenigen zu Wort kommen, die von der Kooperationspolitik am meisten betroffen sind.
Dieser deutsch-französische Bürgerdialog zwischen Baden-Württemberg und Grand Est bietet auch jenen die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, die sich sonst eher wenig mit Menschen aus dem Nachbarland in Kontakt sind. Wir möchten einen Austausch über die Erfahrungen mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit, Wünsche und Zukunftsempfehlungen anregen.
3 Sitzungen mit jeweils 30 Teilnehmenden (15 aus Frankreich, 15 aus Deutschland) haben bereits stattgefunden – letzten Dezember, im Februar und im März. In der ersten Sitzung ging es darum, Bilanz zu ziehen – über die Erfahrungen in der Coronakrise und über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit (Institutionen, Projekte usw.). Außerdem wurden Themen identifiziert, die die Gruppe näher beleuchten wollte; wir haben also für die beiden darauffolgenden Sitzungen Expert*innen zu diesen Aspekten eingeladen.
Anschließend wurden Empfehlungen entwickelt: ein einheitliches grenzüberschreitendes Ticket für den ÖPNV, verbesserte sprachliche Ausbildung, eine Jobbörse für die Grenzregion, … Die Vorschläge sind bunt gemischt und betreffen alle Bereiche der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit!
2 - Wie geht es jetzt weiter?
In der letzten Sitzung, am 16. und 17. April, fassen die Teilnehmenden ihre Beschlüsse, legen ihre Sichtwiese auf die Zusammenarbeit in dieser Ausnahmesituation dar und erklären ihre Vorschläge. Danach übergeben sie die Ergebnisse an die Politikerinnen, die den ganzen Prozess begleiten: Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg, und Claudine Ganter, Präsidentin des Oberrheinrates und zuständig für internationale und grenzüberschreitende Beziehungen (Grand Est).
3 - Einen Monat vor Projekteende, welches vorläufige Fazit ziehen Sie?
Wie so oft bei solchen Projekten bin ich beeindruckt von der hohen Qualität des Austauschs und der Vorschläge, die die Teilnehmenden unterbreiten.
Der Gruppe ist wirklich wichtig, mehr grenzüberschreitende Kooperation umzusetzen, oder die Grenzregion sogar zu einer Art „Labor für europäische Integration und Kooperation“ zu machen.
Alle haben die Schließung der Grenze und die daraus resultierenden Spannungen, wie etwa Angriffe auf Pendler*innen, sehr bedauert. Ausgeschlossen, dass sich so eine Krisensituation noch einmal wiederholt – insbesondere angesichts der gemeinsamen Geschichte von Deutschland und Frankreich. Die Idee ist es also, die örtlichen Herausforderungen anzugehen und die Hindernisse, die die Grenze darstellt, zu überwinden.
Eine lustige Anekdote kann ich noch erzählen: In der zweiten Sitzung ging es darum, dass das Interesse an der Partnersprache oft durch ein Interesse an der anderen Kultur geweckt werden kann. Einer Teilnehmender erwähnte Tokio Hotel und fand, die Band hätte „einiges mehr für die Werbung zum Deutschlernen gemacht also so manche*r Deutschlehrer*in“! Das hat die anderen dazu gebracht, von ihren Lieblingskünstler*innen zu erzählen, die Lust auf die Partnersprache gemacht hätten: von Nina Hagen über Brassens bis zu Rammstein.
4 - Eine Ihrer Herausforderungen ist sicher die Mehrsprachigkeit des Projekts. Wie haben Sie den Austausch zwischen deutschen und französischen Teilnehmenden organisiert?
Für mich und das Team war es das erste Mal, dass wir so ein Projekt zwischen 2 Sprachen und Kulturen organisiert haben. Wir standen also vor neuen Fragen:
Wie können alle sich verstehen und sich verstanden fühlen? Wie können wir einen fließenden Austausch schaffen?
Wir haben also mit mehreren Übersetzer*innen gearbeitet – eine*r pro Untergruppe und für das Plenum.
Am Anfang jeder Sitzung nehmen wir uns immer 1 Stunde Zeit für einen Austausch im Plenum über die Situation und die aktuellen Maßnahmen in beiden Ländern. Dieser Moment ist sehr wichtig für die Teilnehmenden, insbesondere für die, die sonst wenig Gelegenheit zum Austausch mit Bürger*innen aus dem anderen Land haben.
Eine weitere Herausforderung war es außerdem, die Sitzungen interaktiv zu gestalten, obwohl alles coronabedingt online stattfindet. Wir haben also immer zwischen Plenum und kleineren Untergruppen abgewechselt, Präsentationen kurzgehalten, mehr Platz für Frage-Antwort-Runden mit den Expert*innen gelassen und Tools wie Sli.do oder Miro benutzt, damit auch die Teilnehmenden schriftlich zu Wort kommen konnten, die ungern vor einer Gruppe von Menschen sprechen.
5 - Ein Wort zu den Partnern des Projekts?
Wir arbeiten eng mit dem Land Baden-Württemberg und der Region Grand Est zusammen, die uns das Projekt vorgeschlagen haben und gerne mit uns zusammenarbeiten wollten. Ihre Unterstützung und ihr Enthusiasmus haben uns sehr geholfen. Das Gleiche gilt für den Deutsch-Französischen Bürgerfonds, der den Bürgerrat als eines seiner ersten Leuchtturmprojekte finanziell unterstützt. Dank dieser Partner, die um den Wert demokratischer Bürgerbeteiligung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit wissen, konnten wir das Projekt umsetzen. Wir danken ihnen dafür.
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Teil 2: Die Gesichter hinter dem Projekt
Lucas
- Alter: 20 Jahre
- Beruf: Student & IT-Manager
- Rolle im Projekt: Teilnehmer am deutsch-französischen Bürgerrat
- Deswegen ist er beim Projekt dabei: „Ich studiere dual und arbeite 15 Minuten von der deutschen Grenze entfernt, in Folschviller (Mosel). Dabei habe ich auch schon mit Kolleg*innen aus Deutschland zusammengearbeitet, obwohl ich gar kein Deutsch spreche. Als ich die Anzeige für den deutsch-französischen Bürgerrat auf Social Media entdeckt habe, dachte ich: Ich erwarte nicht allzu viel, aber ich habe nichts zu verlieren – also einfach mal ausprobieren!“
- Seine Ideen für eine bessere deutsch-französische Zusammenarbeit: „Ich würde zunächst vorschlagen, die Sprachbarriere zu beheben: Man sollte keine Angst davor haben, die Partnersprache zu sprechen, auch wenn man sie (noch) nicht so gut beherrscht. Im Alltag wäre es hilfreich, wenn man in Deutschland mit ausländischen Kreditkarten ohne Zusatzkosten Geld abheben könnte und wenn der öffentliche Nahverkehr zwischen Frankreich und Deutschland ausgebaut würde. Und schließlich könnte ich mir gut eine engere Zusammenarbeit zwischen der Polizei vorstellen, zum Beispiel deutsch-französische Patrouillen.“
Geneviève
- Alter: 65 Jahre
- Beruf: Rentnerin; hat vorher als Technikerin bei klinischen Studien gearbeitet
- Rolle im Projekt: Teilnehmerin am deutsch-französischen Bürgerrat
- Deswegen ist sie beim Projekt dabei: „Als ich von Paris in die Region Grand Est umgezogen bin, war die Grenze auf einmal ein ganzes Stück näher und ich dachte, dass ein Dialog mit den Bürger*innen von der anderen Rhein-Seite nur positiv sein könnte, um diese Nachbarschaft gemeinsam noch besser zu nutzen.“
- Ihre Ideen für eine bessere deutsch-französische Zusammenarbeit: „Ich war erstaunt über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit während der Coronakrise und fände es gut, wenn diese Kooperation verstetigt würde – vor allem, um die Ungleichheiten in der Pflege auszugleichen, die zwischen Deutschland und Frankreich bestehen: Freund*innen von mir fahren über die Grenze, um sich in deutschen Krankenhäusern behandeln zu lassen, weil man dort besser auf gewisse Krankheiten (z. B. Lyme-Borreliose) spezialisiert ist. Abgesehen davon, würde ich mich freuen, wenn es eine Partnerstrategie in Sachen Kultur und Transport im Grenzgebiet gäbe: Dann könnte ich einfacher mal über die Grenze fahren, um ein deutsches Theaterstück anzusehen. Aber bis dahin, werde ich mich dem Städtepartnerschaftskomitee vor Ort anschließen, um etwas zu bewegen.“
Olga
- Alter: 34 Jahre
- Beruf: Buchhalterin in einer Immobilienverwaltung in Deutschland
- Rolle im Projekt: Teilnehmerin am deutsch-französischen Bürgerrat
- Deswegen ist sie beim Projekt dabei: „Ich habe immer Lust darauf, Neues zu lernen, bin offen, positiv und zielstrebig. Und ich sehe mich als Bürgerin der Europäischen Union. Die Herangehensweise des deutsch-französischen Bürgerdialogs ist notwendig, um zu verstehen, wie sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf lokaler Ebene auswirkt; viele Bürger*innen wissen noch nicht wirklich gut darüber Bescheid.“
- Ihre Ideen für eine bessere deutsch-französische Zusammenarbeit: „Es liegt nicht daran, dass es nicht bereits genügend Informationen gibt – man muss sich nur dafür interessieren. Aber ich denke, man könnte noch mehr Interesse und aktive Teilhabe wecken, wenn man diese Formate der deliberativen Demokratie noch aktiver bewerben würde, damit jeder sie kennt und versteht.“
Johannes
- Alter: 26 Jahre
- Beruf: Student im Master „Demokratie und Regieren in Europa“ (Tübingen)
- Rolle im Projekt: Teilnehmer am deutsch-französischen Bürgerrat
- Deswegen ist er beim Projekt dabei: „Während meines Bachelorstudiums habe ich Formate der Bürgerbeteiligung studiert, aber habe die Theorie nie im die Praxis umgesetzt. Der Bürgerdialog war also eine tolle Gelegenheit, erste greifbare Erfahrungen zu sammeln. Ich habe dabei viele komplett neue Perspektiven kennengelernt; insbesondere die Sichtweise andere Menschen auf unser Land. Besonders gefallen hat mir, dass sich schnelle eine Vertrautheit zwischen den Teilnehmenden eingestellt hat.“
- Seine Ideen für eine bessere deutsch-französische Zusammenarbeit: „Meine Freundin ist Französin und während der Coronakrise habe ich gemerkt, wie schnell es plötzlich kompliziert werden kann, sich im anderen Land zu besuchen oder dort zu bleiben. Ich hoffe, dass die bilateralen und internationalen Entscheidungen und Aktionen noch intensiver abgestimmt werden. Die Coronakrise hat mir auch gezeigt, dass die Leute schnell in nationale Denkmuster zurückfallen können. Ich fürchte, dass das immer mehr der Fall sein könnte, vor allem in Krisenzeiten. Aber der Bürgerdialog war ein gutes Zeichen, dank dem alle sich des europäischen Gedanken bewusst geworden sind – über nationale Grenzen hinaus.“
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Teil 3: Bilanz
Die Vorschläge
Die Gruppe hat 15 Vorschläge entwickelt. Sie lassen sich in 4 Themenfelder einordnen, die zuvor als prioritär eingestuft wurden:
- Bildung und Kultur
- Verwaltung
- Mobilität, Transport und Umwelt
- Arbeit und Wirtschaft
> Hier geht's zu den einzelnen Vorschlägen (auf Französisch)
Die Vorschläge spiegeln wider, wie sich die Teilnehmenden die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Zukunft wünschen: Die deutsch-französische Kooperation sollte in allen Bereichen verstärkt und bürgerfreundlicher kommuniziert werden. Vor allem Verwaltungsabläufe sollten harmonisiert und vereinfacht, administrative Hürden abgebaut werden. Bürger*innen sollten außerdem stärker eingebunden werden, ähnlich wie z. B. in diesem Format. Das Gemeinschaftsgefühl darf nicht an der Grenze Halt machen: Für die Bewohner*innen der Grenzregion gibt es keine Grenze.
Die Übergabe der Vorschläge
Während der letzten Sitzung, am 16. und 17. April, übergaben die Teilnehmenden ihre Vorschläge an Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg, und Claudine Ganter, Präsidentin des Oberrheinrates und zuständig für internationale und grenzüberschreitende Beziehungen (Grand Est), sowie an Benjamin Kurc, Leiter des Deutsch-Französischen Bürgerfonds. Die Politikerinnen haben die Vorschläge erfreut entgegengenommen und möchten einige davon umsetzen, wie z. B. deutsch-französische Kulturfeste. Sie wiesen allerdings auch auf administrative und politische Schwierigkeiten hin, die der Umsetzung anderer Vorschläge im Weg stehen, da Länder bzw. Régions nicht für alle Fragen zuständig sind.
Die nächsten Schritte
Damit die Vorschläge eine möglichst große Wirkung entfalten, planen Missions Publiques und seine Partner in Baden-Württemberg und Grand Est mehrere Arbeitssitzungen und Veranstaltungen (tbc):
- Workshop zu den Vorschlägen mit den betroffenen Institutionen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
- Physische Begegnung und Austausch über das Projekt zwischen den Teilnehmenden und den Politikerinnen und ihren Teams
- Vorstellung des Projekts und seiner Ergebnisse beim Weltforum für Demokratie in Straßburg (November 2021)
Potenzial für die Zukunft
Die Konferenz zur Zukunft Europas zeigt: Es ist wichtig, geografische Landesgrenzen zu überschreiten und eher über gemeinsame, grenzüberschreitende Lebensräume nachzudenken. In der Coronakrise haben die Regierungen oft zuerst in Landesgrenzen gedacht; Bürgerräte können aber dabei helfen, einen anderen Blick auf die Situation zu werfen und alternative Arten des Zusammenlebens zu entwickeln, die krisenbeständiger sind und die Erfahrungen der Betroffenen besser berücksichtigen.
Bürgerdialoge sind technisch möglich und notwendig, um eine echte partizipative Demokratie in den Grenzgebieten zu gestalten. Diesen ersten deutsch-französischen Bürgerdialog haben wir bewusst sehr offen gehalten, damit die Teilnehmenden zunächst einmal wichtige Themen identifizieren konnten. Aber wir könnten uns ähnliche Formate auch in anderen Gegenden oder zu spezifischen Fragestellungen vorstellen. Das Projekt hat auf jeden Fall gezeigt, dass die Zusammenarbeit zu bestimmten Bereichen (Kultur und Sprache, Mobilität und Bildung) auch im Zentrum eines eigenen Bürgerrates stehen könnte.
Der deutsch-französische Bürgerrat war das erste grenzüberschreitende Projekt, das wir mit Particip’Action und Mission Publiques durchgeführt haben. Aber die Bürger*innen befürworten eine Weiterführung dieses Formats: Ein Format, das die kulturellen und sprachlichen Unterschiede der Teilnehmenden berücksichtigt, sodass alle einander verstehen können und sich vertreten fühlen. Und bei dem sogar Raum für persönliche Gespräche bleibt. Obwohl das Projekt komplett online stattgefunden hat, waren diese informellen Momente sehr wichtig für die Gruppendynamik.
Was ist ein Leuchtturmprojekt?
Leuchtturmprojekte zeichnen sich durch besondere Strahlkraft, Reichweite und Relevanz aus und werden von einem Gremium ausgewählt. In der Bewertung erreichen sie mindestens 90 Punkte: für jedes der 11 Kriterien können maximal 10 Punkte erreicht werden.
Der Bürgerfonds unterstützt in 4 Förderkategorien: von kleinen Finanzspritzen bis zu 5.000 €, über größere Beträge von bis zu 10.000 € bzw. 50.000 € bis hin zur Finanzierung von Leuchtturmprojekten mit über 50.000 €. Übernommen werden bis zu 80 % der Kosten für Reise, Aufenthalt, Organisation, Material, Fortbildungen und Honorare.
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