Europa

Wir mischen uns ein – über alle Grenzen hinweg! Literatur und Engagement im Zeichen der deutsch-französischen Geschichte

Erstellt am: 16.01.2024

Projekt:

  • Wo: Am Markt 20, 28195 Bremen, Germany
  • Wann: 26.01.2024 - 26.01.2024

Organisation:

Indem er sich einmischt, den Mund aufmacht, Tacheles redet, im Streben nach Veränderung und im Drang, politisch handeln zu wollen, kann der Mensch zu Solidarität mit anderen, mit Gleichgesinnten gelangen: „Ich empöre mich, also sind wir“, heißt es dementsprechend schon bei Albert Camus in seinem Essay L’homme revolté / Der Mensch in der Revolte. „Einmischung erwünscht“, heißt es auch bei seinen deutschen Literatur-Nobelpreis-Kollegen Heinrich Böll und Günter Grass. Denn Einmischung und Empörung sind transnationale Kulturtechniken, Akte individueller oder kollektiver (Unmuts)Äußerungen mit dem Ziel, Neues zu schaffen. Insbesondere den vielstimmigen Formen sprachlicher Einmischung kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu, nicht zuletzt als Movens literarischer Produktion und als Ausdruck des Widerstands gegen gesellschaftliche Missstände und grenzüberschreitende Probleme, sowohl auf der großen Bühne als auch im Alltag, sowohl in der Weltliteratur als auch in politischen Streitschriften.

Die Günter Grass Stiftung Bremen versteht sich nicht nur als Hüterin des literarischen Nachlasses von Günter Grass, sondern auch als ein Ort der Begegnung und des Dialogs, der die Traditionen und die kritische Auseinandersetzung, die Grass in seinen Werken pflegte, fortführt. In diesem Sinne führt das Medienarchiv mit Unterstützung ihres Partners NetAlive Projekte durch, die sich mit Grass' Themen wie der Erinnerungskultur, der Rolle des Individuums in der Geschichte und der Bedeutung von Kunst und Literatur für die Gesellschaft auseinandersetzen. Ein Beispiel hierfür ist die Literatur-Plattform mit dazugehörigem YouTube-Channel „Literatur erleben“, die allein über YouTube mehr als 100.000 Zuschauer:innen erreicht.

Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass (1927-2015), der schon durch seinen ersten Roman Die Blechtrommel (1959) weltberühmt wurde, hat in seinem vielfältigen Schaffen als Künstler und Citoyen die Nachkriegszeit maßgeblich geprägt und jederzeit auch die komplexen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich reflektiert. Schließlich war es die französische Hauptstadt Paris, in der Grass in den späten 1950er Jahren eine kreative Zuflucht fand. Dort verfasste der junge Autor im Heizungsraum der Familienwohnung in der Avenue d’Italie 111 seinen Debütroman. Erst die französische Metropole verschaffte ihm den nötigen Abstand zu Deutschland, um anhaltend belastende Gedanken und Gefühle über seine Heimat und deren Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten.

Seitdem erforschte Grass in immer neuen Anläufen – sowohl in seinen poetischen als auch in seinen essayistischen Werken – die verschlungenen Pfade der deutschen Vergangenheit und Identität, und immer wieder kreuzen diese Pfade die der französischen Geschichte und Kultur. Durch seine nicht zuletzt von französischen Vorbildern geprägten, literaturhistorischen und philosophischen Kenntnisse sowie seine Teilnahme an intellektuellen Debatten der Jetzt-Zeit - lebenslang geprägt hat ihn insbesondere der wegweisende Streit zwischen Albert Camus und Jean-Paul Sartre - und seine enge Freundschaft mit in Frankreich lebenden Schriftsteller:innen förderte Grass den Austausch auf Augenhöhe und damit das Verständnis zwischen den beiden Nationen. Als unermüdlicher Steinewälzer vom Stamme Sisyphos verstand er es, die notwendige Auseinandersetzung mit den Weltkriegen, die beiden Ländern gemeinsam war, mit seinen Talenten so zu verarbeiten, dass die daraus resultierenden Kunstwerke nicht nur als Mahnung, sondern auch als Brücke zur Versöhnung dienen konnten. Die deutsch-französische Freundschaft fand im Aufklärer Grass immer einen kritischen, aber zugleich hoffnungsfrohen Chronisten, dessen literarisches und politisches Erbe auch als ein Plädoyer für ein vereintes und friedliches Europa gelesen werden kann. Exemplarisch dafür stehen sein 1989 publizierter Dialog mit der Journalistin Françoise Giroud „Wenn wir von Europa sprechen“ und sein Gespräch mit dem Soziologen Pierre Bordieu „Von unten gesehen“ aus dem Jahr 1999.

Im Rahmen der Veranstaltung im EuropaPunktBremen finden Lesungen mit Fokus auf das Thema Europa aus Günter Grass "Die Blechtrommel" und Robert Menasses "Der Europäische Landbote" sowie aus seinem noch unveröffentlichten Essay "Die Welt von morgen" statt. Freuen Sie sich auf die Podiumsteilnehmer:innen:

Helga Trüpel, Jg. 1958,  geboren in Moers, Lehramtsstudium und Promotion an der Universität Bremen, seit 1980 Mitglied von Die Grünen, der heutigen Partei Bündnis 90/Die Grünen, wiederholt Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft, 1987 grüne Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl in Bremen, von 1991 bis 1995 Senatorin für Kultur und Ausländerintegration der Freien Hansestadt Bremen, von 2004 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments (10 Jahre als stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung), amtierende Präsidentin des Kulturausschusses der UNESCO-Kommission; Erste Vorsitzende im Landesvorstand der Europa-Union Bremen, Bundesverdienstkreuz am Bande (2021).

Robert Menasse, Jg. 1954, geboren in Wien und auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980. Menasse lehrte anschließend – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt er als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien, zuletzt erschienen: Der europäische Landbote (2012), Die Hauptstadt (2017), Die Erweiterung (2022); letzte Auszeichnungen: Deutscher Buchpreis 2017, Prix littéraire des lycées français d’Europe 2019, Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022, Prix du livre européen 2023.

Dieter Stolz (Moderation), Jg. 1960, geboren in Münster, lebt als freier Lektor, Hochschullehrer und Autor in Berlin. Er studierte Deutsch, Geschichte, Pädagogik und Philosophie. Nach dem Ersten Staatsexamen an der WWU promovierte er an der TU Berlin, war Wissenschaftlicher Assistent, Redakteur der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, Programmleiter beim LCB, publizierte Bücher und Essays zur Gegenwartsliteratur, erhielt Gastdozenturen an Universitäten im In- und Ausland, arbeitete als Grass-Lektor des Steidl Verlags, ist Mitherausgeber und Kommentator der aktuellen Günter Grass-Werkausgabe in 24 Bänden, seit 2013 Honorarprofessor für das Fachgebiet "Neuere Deutsche Literaturwissenschaft" an der Universität zu Lübeck und seit Juli 2023 Wissenschaftlicher Leiter der Günter Grass Stiftung Bremen.